• Edgar Reitz

    800 Mal Einsam © Anna Hepp

Edgar Reitz - Zum 90. Geburtstag

Vor fast 70 Jahren hat der am 1. November 1932 im Hunsrück-Dörfchen Morbach geborene Edgar Reitz mit dem Filmemachen begonnen – zu seinem 90. Geburtstag gratulieren wir ihm mit einem besonderen Double Feature! Seiner rauen südwestdeutschen Heimatregion hat Reitz über Jahrzehnte hinweg ein filmisches Denkmal gesetzt, die deutsche Filmgeschichte hat er nachhaltig geprägt: 1962 ist Reitz Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests, er war Lehrender und Mitbegründer des Instituts für Filmgestaltung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und einer der Wegbereiter des Neuen Deutschen Films, unter anderem mit dem Film MAHLZEITEN (1967). Mit seiner vielteiligen Heimat-Reihe (1981-2004) schreibt er Fernsehgeschichte und entkontaminiert nebenbei den durch die NS-Ideologie und den Heimatfilm der 1950er Jahre beanspruchten Begriff „Heimat“.

Mit DIE ANDERE HEIMAT – CHRONIK EINER SEHNSUCHT (2011-2013), dem Prequel und Abschluss des Zyklus’, wechselt Reitz mit seinem Hunsrück-Reigen von der Mattscheibe auf die große Kinoleinwand und blickt dabei zurück in die erste Hälfte des 19 Jahrhunderts. Angesichts von Missernten, Hunger und Krankheit, drohendem Militärdienst, knochenharter Arbeit und ungerechten Besitzverhältnissen verlassen Tausende Deutsche ihre Heimat um in der „Neuen Welt“ neu anzufangen. Auch Jakob (Jan Dieter Schneider), der wissbegierige Sohn eines Schmieds im kleinen Hunsrückdorf Schabbach, sieht täglich die Trecks der Auswanderer am Horizont vorbeiziehen; und auch er träumt von den fernen Welten Südamerikas, die er als begeisterte Leser nur aus Büchern kennt. Sein Jettchen (Antonia Bill), der er versucht, indigene Sprachen beizubringen, will er unbedingt mitnehmen auf die große Reise über den Ozean und zu seinen imaginierten Abenteuern im Dschungel. Eines Tages bekommt Jakob hohen Besuch, denn der berühmte Gelehrte Alexander von Humboldt (Werner Herzog) macht ihm auf der Durchreise die Aufwartung, um sich mit dem jungen Mann, mit dem er zuvor schon korrespondierte, über Sprachgenealogien auszutauschen. Es ist ein wunderbarer und augenzwinkernder Kurzauftritt des Regiealtmeisters Werner Herzog, in einem ansonsten so bildgewaltigen wie universell angelegten Familienepos, das von Horizonterweiterung und Weltoffenheit ebenso erzählt wie von den engen Grenzen einer ökonomisch randständig erscheinenden Region. Reitz hebt den Heimat-Zyklus damit noch einmal auf eine andere Ebene: „Was für ein gewaltiger, die Augen bezaubernder, zu Herzen gehender Film, was für eine große, einfache Geschichte von einem jungen Menschen, der ausziehen will, das Leben zu lernen, den die Sehnsucht in die Ferne treibt, die Liebe berührt, die Pflicht plagt, der rebelliert und resigniert und dennoch seine Würde nicht verliert.“ (Thomas E. Schmidt, Die Zeit, 2.10.2013) Zurecht wurde DIE ANDERE HEIMAT – CHRONIK EINER SEHNSUCHT beim Deutschen Filmpreis 2014 mit der Lola für den besten Film, die beste Regie und das beste Drehbuch ausgezeichnet.

Fünf Jahre später trifft der Altmeister Edgar Reitz auf die junge Filmemacherin Anna Hepp, im Dokumentar- und Porträtfilm 800 MAL EINSAM – EIN TAG MIT DEM FILMEMACHER EDGAR REITZ (2019). Für diese Begegnung hat sich Hepp eines der schönsten Kinos Deutschlands ausgesucht, die Essener Lichtburg, einen der letzten opulenten Filmpaläste aus den 1920er-Jahren. Hepp leugnet von Anfang an nicht, dass sie Reitz und dessen Werk bewundert, was dieser vor allem mit Humor kontert, und einer unbändigen Erzählfreude; ergänzt um wenige, aber präzise ausgewählte Ausschnitte aus seinen Werken. Somit entsteht nicht nur ein feinfühliges werk-biografisches Porträt, sondern auch eine generationenübergreifende Liebeserklärung an das allzu oft gescholtene Filmemachen in Deutschland, zu dem Reitz einen bleibenden Beitrag geleistet hat. Wir gratulieren!

Frederik Lang